Meer: David Abulafia schreibt eine Weltgeschichte der Ozeane (2024)

Ob es um die Vorherrschaft in der Arktis geht oder um Einflussnahme in Ostasien: Das Meer spielt in heutigen geopolitischen Konstellationen eine zentrale Rolle. Eine «Weltgeschichte der Ozeane» kommt da wie gerufen.

Thomas Speckmann

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Das Meer ist zurück. In den Köpfen. Zunächst brachte es sich ökologisch in Erinnerung – mit seiner Verschmutzung durch den Menschen. Dann gelangte es in die Schlagzeilen durch seine Rolle als Fluchtroute nach Europa. Und schliesslich war und ist es das maritime Wettrüsten in Asien, das die Abhängigkeit der Weltwirtschaft und ihrer globalisierten Logistik von freien Wasserstrassen auf die geopolitische Tagesordnung bringt.

Umso mehr ist das neue Opus magnum von David Abulafia zur vertieften Lektüre zu empfehlen. Der Professor für die Geschichte des Mittelmeerraumes an der Universität Cambridge hat sich bereits mit einem mehrfach preisgekrönten Bestseller zur Historie des Mittelmeeres einen Namen gemacht. Nun hat er seinen Untersuchungsgegenstand deutlich ausgeweitet und eine Globalgeschichte des Meeres geschrieben.

Dieses gewaltige Werk eignet sich weniger zum stringenten Durcharbeiten – dafür beleuchtet es zu viele verschiedene und voneinander unabhängige Facetten. Eher ist es reizvoll, das Buch zum Nachschlagen und zur Recherche zu verwenden, beispielsweise auf der Suche nach historischen Verbindungslinien in die maritime Gegenwart und Zukunft.

Denn vieles von dem, was Abulafia aus vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden schildert, erinnert an heutige oder sich abzeichnende Gemengelagen. Da ist etwa die Bedrohung Taiwans von der See her durch China. Wem in Europa ist bewusst, dass die Androhung und Anwendung maritimer Gewalt in Asien eine lange Tradition hat? Sie reicht viel weiter zurück als zu den grossen Seeschlachten im Zweiten Weltkrieg zwischen Japanern und Amerikanern, die im kollektiven Gedächtnis der Europäer ebenfalls kaum verankert sind.

Englische Pantoffeln für China

Bei Abulafia werden die enormen Dimensionen sichtbar, in denen bereits im 16.Jahrhundert um Macht und Einfluss in Asien gekämpft wurde. So interessierte sich der japanische Feldherr und Politiker Toyotomi Hideyoshi, der als einer der drei Reichseiniger des neuzeitlichen Japan gilt, nach Abulafias Schilderung für mehr als nur den Handel in Übersee. Sein Traum war die Eroberung von Korea und China. Seine Invasionsflotte soll in den Jahren 1592 und 1593 rund dreihunderttausend Mann transportiert haben.

Oder wer in Europa verfolgt wirklich akribisch die heute erneut ausgebrochene Rivalität der Grossmächte um die Vorherrschaft in der Arktis? Um Bodenschätze und Schiffsrouten? Und wer kennt die zugehörige Vorgeschichte? Auch hier wird man bei Abulafia fündig. Sind es gegenwärtig nicht zuletzt die USA, China und Russland, die um arktische Räume und Passagen ringen, waren es im 16.Jahrhundert vor allem Engländer, Niederländer, Spanier und Portugiesen.

Abulafia beschreibt nicht nur die vielen Versuche, eine Schiffsroute durch das ewige Eis zu finden, um die schon damals globalen Handelsströme zu beschleunigen. In seinen Beschreibungen spiegeln sich auch Verquickungen von ökonomischen und politischen Interessen, die im 21.Jahrhundert wiederkehren.

So erhielt 1580 eine englische Handelsgesellschaft den Auftrag, einen Weg durch den Arktischen Ozean nach China zu suchen. Als Export waren an Bord: englische Hüte, Handschuhe, Pantoffeln, Glaserzeugnisse und Eisenwaren. Als Import bei der Rückreise wurden nicht nur Pflanzensamen chinesischer Kräuter für Europa gewünscht, sondern auch eine Karte von China und Informationen über chinesische Befestigungsanlagen und Marine-Aktivitäten.

Antwerpens «goldenes Zeitalter»

Und schliesslich: Antwerpen. Heute steht die belgische Stadt im Schatten von Rotterdam. Denn gemessen am Ladungsaufkommen beherbergt sie nur den zweitgrössten Hafen Europas. Doch auch hier gilt: Wer weiss schon, dass Antwerpen gegenwärtig der weltweit grösste Hafen für Stückgut ist und zugleich den zweitgrössten Chemie-Industriepark bildet – nach Houston an der Südküste der Vereinigten Staaten?

Diese Daten überraschen weniger, wenn man sich von Abulafia die Hafengeschichte Antwerpens erzählen lässt: Dort hatten bereits 1498 die Portugiesen eine Handelsvertretung gegründet, um an der Westküste Afrikas erworbene Güter zu verkaufen, vor allem Pfeffer und Zucker. Letzterer wurde in Raffinerien in der Nähe von Antwerpen verarbeitet. Bald folgten Handelsniederlassungen anderer damals bedeutender Wirtschaftsmächte wie Genua und Florenz. Antwerpen erlebte sein «goldenes Zeitalter»: Mitte des 16.Jahrhunderts lebten dort rund hunderttausend Menschen. Die Börse der Stadt diente als Vorbild für die Royal Exchange in London.

Am Ende dieser Kreuzfahrt durch die Weltgeschichte der Ozeane schliesst sich bei Abulafia ein historischer Kreis, und zwar erneut in Asien: Der chinesische Perlfluss, «lange Zeit Chinas Tor zur Welt», sei heute noch bedeutsamer als früher, und das nicht nur für China, sondern für die ganze Welt. Denn nach Abulafias Urteil blickt die Volksrepublik inzwischen mit einer Begeisterung auf das Meer hinaus wie seit den Zeiten von Admiral Zheng He mit seinen grossen Expeditionsflotten am Anfang des 15.Jahrhunderts nicht mehr. Erneut geht es um die Kontrolle der globalen Seewege und ihrer Warenströme: Das Meer ist zurück. Nun auch in den Köpfen Chinas.

David Abulafia: Das unendliche Meer. Die grosse Weltgeschichte der Ozeane. Aus dem Englischen von Michael Bischoff und Laura Su Bischoff. Verlag S.Fischer, Frankfurt am Main 2021. 1136S., Fr. 96.90.

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Christoph G. Schmutz, Antwerpen

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